Halten oder werfen? Über das Loslassen
Gerade sitze ich am See – mitten in der Natur – statt im „Home-Office“ (bzw. im leeren Praxisraum). In der derzeitigen Situation begleite ich die meisten Klienten nur noch telefonisch oder schriftlich. Was auffällt: Insbesondere die belastenden Gedanken und Ängste verstärken sich in den letzten Tagen. Oder Panikattacken beginnen wieder. Wir sprechen daher häufig über „Belastungen loslassen“, „Angstgedanken wohlwollend wahrnehmen und dann loslassen“ und „gegenwärtig sein“ und üben das auch gleich gemeinsam.
Das Loslassen ist ein zentraler Punkt auf dem Weg zu einem gelassenen, angstfreien Leben. Zu diesem Thema möchte ich daher heute einen neuen Beitrag schreiben.
Hier am See.
Halten oder werfen: Eine imaginative Reise an den See
Sie können gleich mitdenken. Vielleicht haben Sie bereits einen Gedanken identifiziert, der Sie belastet oder der Ihnen Angst macht (Beispiele hier: Angstauslösende Gedanken). Das ist gut. Gedanken als „Gedanken“ wahrnehmen beinhaltet schon eine Distanzierung. Sich von belastenden Gedanken distanzieren zu können, das benötigt etwas Übung. Den ersten Schritt haben Sie somit schon geschafft.
Zur Seite schieben, runterschlucken, zusammenreißen, verdrängen, ablenken oder vermeiden?
Wenn Sie diesen Distanzierungs-Schritt geschafft haben, dann geht es im nächsten Schritt darum, den belastenden Gedanken loszulassen. Manchmal will der aber lieber bleiben oder wir halten bewusst an ihm fest.
OK, zur Seite schieben, runterschlucken oder verdrängen, das klappt auch schon mal ganz gut. Oder aber auch Ablenkung – am besten mit etwas besonders Schönem, weil der Gedanke gerade so schrecklich weh tut. Oder Vermeiden: Einfach alle Situationen, Themen oder Orte meiden, die diesen Gedanken aktivieren könnten. Kennen Sie das? Und haben Sie auch bemerkt, dass es dann gar nicht lange dauert, und der Gedanke (das Thema) ist wieder da? Noch größer? Oder gemeiner? Das Gedankenkarussell dreht sich in der Nacht und Sie grübeln stundenlang? Oder haben Schmerzen? Atemprobleme? Schuld- oder Schamgefühle?
Lieber: Loslassen
Wären Sie bereit, etwas Neues auszuprobieren? Wie wäre es mit „Loslassen“? Dazu ist mir hier am See eingefallen, was J. Bucay in seinem Buch „Die drei Fragen“ über Aristoteles geschrieben hat. Diese Erkenntnis – beziehungsweise das Bild dazu – hat mich heute zum Schreiben inspiriert. Dort steht:
„Aristoteles sagte: Ich habe einen Stein in der Hand und kann mich entscheiden, ob ich ihn weiter in der Hand halte oder ob ich ihn in den See werfe. Die Entscheidung liegt bei mir, und solange ich den Stein in der Hand halte, habe ich diese beiden Möglichkeiten.“
(aus J. Bucay „Die drei Fragen“)
1. Ich könnte den Stein werfen
Ich lasse los. Und mit dem Loslassen würde sich etwas an meiner momentanen Situation verändern. Es würde sich schon alleine dadurch etwas verändern, dass meine Hand danach leer wäre.
Das wäre anders – neu – vielleicht auch erstmal fremd, komisch, ungewohnt. Allerdings – Ich könnte danach etwas anderes in die Hand nehmen.
2. Ich könnte den Stein weiter in meiner Hand halten
Das könnte mir Sicherheit vermitteln, weil ich ja weiß, wie sich das anfühlt, so mit dem Stein in der Hand hier zu stehen. Und ich hätte zusätzlich noch den Gewinn, dass ich mich immer noch zwischen zwei Handlungen entscheiden könnte: Halten oder werfen. Solange ich den Stein halte, habe ich noch beide Entscheidungsmöglichkeiten.
„Es gibt eine Wahl die einengt und eine Wahl die frei macht.„
aus J. Bucay „Die drei Fragen“
Was nun? J. Bucay interpretiert, dass es zwei Wahlmöglichkeiten gibt: Eine Wahl die einengt und eine Wahl die frei macht. Und ich frage Sie nun: Welche ist welche?
Und vor allem, was hat das mit unserem Alltag zu tun? Und
was mit belastenden Gedanken und Ängsten? Das können wir nun Schritt für
Schritt gemeinsam durchdenken.
Wir könnten dieses „Stein halten“ einmal als Metapher für das „Festhalten eines Gedankens“ ansehen.
Ein Gedanke, der sich mit einer Bewertung oder mit einer Interpretation beschäftigt. Und der belastet (negativ ist).
Erinnern Sie sich? Bei solchen Gedanken sage ich in der Beratung meist sowas wie: „Die können Sie loslassen – das sind nur Gedanken“. Das ist unser Merksatz, der in Kurzform an das Gelernte aus der kognitiven Verhaltenstherapie erinnert. Das mit dem Loslassen schlage ich Ihnen immer dann vor, wenn Ihnen diese Gedanken negative Gefühle oder unangenehme Körperempfindungen bereiten.
„Ich trau mich nicht“ – enger Hals
„Ich glaub, er mag mich nicht“ – Brustschmerzen
„Vielleicht bin ich unheilbar krank“ – Verspannungen im Körper
„Das machen die extra, um mich zu ärgern“ – Bauchschmerz
„So gut wie der werde ich nie werden“ – Magendrücken
„Wieder nicht genug geschafft heute“ – Kopfschmerzen
Exkurs: Vergangenheit und Prägungen
Nun können wir diese belastenden Gedanken für einen kurzen Moment als „Prägungen“ wahrnehmen. Als nach gesellschaftlichen Normen vollzogenen Konditionierungen, die wir alle erfahren haben und die zu einem Teil von uns geworden sind. Alles das, was in der Interaktion mit Eltern, Erziehungsberichtigten, Lehrern und Trainern, Klassenkameraden, Freunden, der Clique, den Partnern oder langjährigen Kollegen und Chefs entstanden ist und geprägt hat.
Meine Erlebnisse und die Erfahrungen, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe. Etwas aus der Vergangenheit, der eigenen Biografie. Auch das, was in früheren Situationen einmal hilfreich war, heute aber eher belastend wirkt. Lauter Steine, die mir in die Hand gelegt wurden oder die ich selber aufgesammelt haben.
Halten oder werfen? Für welche Möglichkeit entscheiden Sie sich, wenn es um Ihre Prägungen und die damit verbundenen Gedanken geht? Womit identifizieren Sie sich? Mit den Gedanken-Konstrukten, mit denen Sie in der Vergangenheit geprägt wurden oder mit dem, was jetzt gerade ist? Jetzt gerade – in den 3 Sekunden Gegenwart in der wir leben und handlungsfähig sind? (Anmerkung: Neurowissenschaftler haben ermittelt, dass die erlebte Gegenwart etwa 3 Sekunden dauert.)
Zurück am See: Welcher Gedanke belastet Sie gerade?
OK, nun konkret mit Ihrem Gedanken: Sie nehmen gerade diesen Gedanken wahr und haben zwei Möglichkeiten. Sie könnten den Gedanken loslassen oder festhalten. Was meinen Sie? Welche Option wäre „die Wahl die einengt“ und welche wäre „die Wahl die frei macht“?
Zurück zum See. Sie stellen sich vor, Sie stehen hier mit diesem „Gedanken Stein“ am See. Konzentrieren wir uns auf einen einzigen Stein. Auf Ihrem Stein steht gerade „ … ….. ….. …. … .. ….“.
Setzten Sie einfach einen Gedanken ein, der immer wieder mal hochkommt. Einen Gedanken, der Sie grübeln lässt oder nachts nicht schlafen.
Irgendeinen Gedanken, den Sie die Tage gedacht und geglaubt haben und der Sie in irgendeiner Form belastet hat (oder gerade belastet). Ich mache auch mit – wir spielen es gemeinsam in Gedanken durch, ich schreibe weiter „ich“ und Sie lesen und denken für sich mit und setzten Ihre Gedanken ein:
Was bemerke ich? Dass ich jetzt gerade in diesem Moment mit dem Stein hier stehe und ein belastendes Gefühl verspüre, das hängt mit meinen Erfahrungen aus der Vergangenheit (Prägungen) zusammen und mit meinen Gedanken an die Zukunft (Mehr dazu hier: Angst und Panik). In der Vergangenheit habe ich wahrscheinlich einmal etwas Ähnliches erfahren und basierend auf diesen Erfahrungen prognostiziert mein Geist, was mich in der Zukunft erwartet. In Falle von Angst wäre das eine mögliche Bedrohung, eine Gefahr oder ein Mangel.
Und jetzt zur Gegenwart
Dem gegenüber steht das, was jetzt gerade ist. Die Gegenwart. Drei Sekunden Realität. Nur das ist eine Tatsache, dass ich hier am See stehe, die Hand ausgestreckt und den Stein halte. Der Wind auf meiner Haut, Vogelgezwitscher. Die Füße auf dem Boden. Mein Atem. Ich schaue mich um. Und halte immer noch den Stein …
… dass ich geworden bin, wer ich bin, hängt mit all dem zusammen, was ich erlebt habe. Jetzt gerade ist es allerdings wichtig, dass ich beginne, mich in die Realität zu begeben. Realität bedeutet: Das bin ich heute, hier stehe ich gerade – JETZT. Und ich kann wählen: Halten oder werfen.
Was ist jetzt gerade wichtig für mich?
Es ist nicht das, was in der Vergangenheit war. Auch nicht das, was in Zukunft sein könnte. Und es sind nicht die Normen und Regeln der anderen! Ich möchte mich nicht über sie definieren. Da sind die anderen, hier bin ich. Deren Meinungen, Glaubenssätze, Regeln, Muster wurden meine zu meinen Prägungen. Brauche ich die jetzt?
„Da sind die anderen, hier bin ich.“
Jetzt gerade, in diesem Moment, in dem ich am See stehe, ist das Vergangene nur in meinen Gedanken lebendig. Kein anderer steht neben mir! Es sind nur Gedanken, die sich (lebhaft) mit der Vergangenheit und mit der Zukunft beschäftigen und mit denen ich mich identifiziert hatte. Das was war und das was sein könnte. Diese Gedanken lösen ein Angstgefühl aus und ich kann die entsprechenden Körperreaktionen spüren: Herzrasen, Bauchschmerzen und ein Engegefühl in der Brust. Die Gedanken ziehen immer größere Kreise.
Und immer wieder: All diese Angstgedanken sind nur denkbar. Nicht real. „Ich könnte krank werden“ „Ich werde nie geliebt“ „Ich werde erneut versagen“ „Es könnte wieder was Schlimmes passieren“ Das ist nicht real, denn … jetzt gerade stehe ich hier am See, mit dem Stein in der Hand.
Bereit loszulassen? Wann?
Kurzer Exkurs zu Ihnen: Wie siehts bei Ihnen aus? Sie möchten den Stein noch eine Weile halten? Vielleicht ist Ihr Unterbewusstsein noch der Meinung, dass das Denken über „das was passieren könnte“ irgendwie hilfreich sei. Suggeriert Ihnen, dass Sie ganz viel über dieses Thema nachdenken sollten? Verspricht, dass Sie durch Grübeln Probleme lösen könnten.
Da ist vielleicht irgendein tief vergrabener Gedanke, der Sie glauben lässt, dass, wenn man nicht darüber nachdenken würde, etwas Schlimmes passieren könnte. Gefahr – Verlust – Mangel – Bedrohung. Oder dass man die Kontrolle verliert. Dass der Stein Halt und Struktur bietet. Dass Sie ohne den Gedanken-Stein hilflos wären und dass dann vielleicht Ihr Leben zerbrechen könnte. Dass Sie nicht wissen, was mit der leeren Hand zu tun wäre. Ich frage Sie: „Ist das tatsächlich so?“
„Ist das wahr?“ „Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?“ „Wie reagierst du, was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst?“ „Wer wärst du ohne den Gedanken?„
Anleitung zu „The Work“ von Byron Katie
Bereit loszulassen?
Ich bin frei und ich selbst bin es, die entscheidet, was ich tue und was ich nicht tun möchte. Ich entscheide, was ich sage oder verschweige. Aus diesem Grund bin ich dafür verantwortlich und auch für all die Folgen die daraus entstehen, dass ich mich für oder gegen etwas entscheide. Das ist gut so, denn ich bin erwachsen. Handlungsfähig. Kritikfähig. Authentisch. Also kann ich den Stein werfen. Loslassen.
jetzt ist meine Hand frei
Ich stehe hier. Meine Hand ist leer. Was auch immer mein Gedanke war: Ich bin diejenige die hier steht, die diesen Weg gewählt hat oder einen anderen Weg nicht gewählt hat und somit sind die Erfolge ebenso meine, wie die Misserfolge. Das ist auch ganz in Ordnung so.
Oder lieber ohne Bewertungen formuliert: Weil ich mich gerade an dieser Stelle befinde, bin ich hier. Mit all dem was mich ausmacht. Ob das als Erfolg oder Misserfolg bezeichnet wird, das sind (bloß) Bewertungen von mir selbst oder von anderen. Jetzt gerade ist das was ist. Und auf welchem Weg ich weitergehe, das kann ich jetzt auch selbst entscheiden. Meine Hand ist frei.
Sie fragen sich: Was kommt nach dem Loslassen?
Halt. (…) Zuerst betrachten wir den Moment zwischen „Stein in der Hand halten“ und „neuen Stein aufheben“. Da ist diese kleine Lücke, diese Zeitspanne, in der meine Hand frei ist. Sie erinnert mich an die Diastase nach B. Waldenfels (darüber schreibe ich demnächst etwas ausführlicher). Oder auch an den als „Musterunterbrechung“ bezeichneten Vorgang in der kognitiven Verhaltenstherapie. Einfach ein neuer Raum der entstanden ist und der jetzt gefüllt werden kann – beziehungsweise der gefüllt werden wird.
Um zu verstehen, muss man sich leer machen, sagt Krishnamurti. Ein Becher ist dazu da gefüllt zu werden. Ein voller Becher ist sinnlos, denn in den kann man nichts mehr hineinfüllen. Ich bin nicht nur das was ich habe, sondern vor allem auch das, was ich geben kann.
„Nur wenn ein Becher leer ist, kann er gefüllt werden. Nur wenn Geist und Herz vollkommen leer sind, können sie verstehen.“
Jiddu Krishnamurti (indischer Philosoph, Autor, Theosoph und spiritueller Lehrer)
Den Raum erweitern
Meiner Meinung nach kann man das wunderbar auf die Hände übertragen. Auch auf Ihre freie Hand, jetzt gerade am See. In dem Moment, in dem Sie den Stein loslassen, ist Ihr Gedankenstrom für einen kurzen Moment unterbrochen. Das was war – das was wird.
Wie Krishnamurti beschreibt, ist Geist und Herz für den Bruchteil eines Augenblicks vollkommen leer. Man versteht. Diese Musterunterbrechung, dieser Raum, wird auch therapeutisch genutzt um Perspektivwechsel zu ermöglichen. Vielleicht können Sie ihn noch etwas weiten:
- Achten Sie kurz auf Ihren Atem, wenden Sie (die in meiner Praxis erlernten) Erdungsübungen, Orientierungsübungen und Atemtechniken an
- Spüren Sie Ihren Körper
- Atmen noch einmal langsam ein und aus
Setzen sie sich ans Ufer (ja wir sind noch am See) und nehmen sich einen Moment Zeit, alternative Gedanken zu Ihrem Thema zu notieren.
Wahrscheinlich werden Sie überrascht sein, was Ihnen da so alles Hilfreiches einfällt. Schreiben Sie diese Gedanken ruhig auf. Fünf bis zehn – ja bitte, versuchen Sie es. Nach dem fünften fällt es nach meiner Erfahrung immer leichter.
Und wenn Sie jetzt noch etwas Zeit haben, dann schreiben Sie sich auch gleich noch ein paar „Beweise“ aus dem Alltag auf, dass Sie diese neuen, alternativen Gedanken tatsächlich glauben können. Dass die auch wahr sind.
OFFEN . ANDERS . GUT
Also, welche Wahl ist die, die einengt und welche ist die, die frei macht? Wann sind Sie bereit, den Stein zu werfen?
Sie können auch gerne an den See kommen und sich dort einen Stein aufheben, Ihren belastenden Gedanken draufschreiben und das Loslassen üben. Ach ja, nehmen Sie sich auch noch Schreibsachen mit – für die alternativen Gedanken hinterher!
Sonnige Grüße aus Garbsen – heute mit Seeblick,
Claudia Berger
PS: Und falls Sie Unterstützung beim Loslassen oder Perspektivwechsel benötigen, können Sie mich gerne kontaktieren. Ich habe Techniken aus unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen weiterentwickelt, die das Loslassen erleichtern.
PPS: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem „Halten oder Werfen“ gemacht? Wie haben Sie das Gedankenexperiment mitgemacht? Waren Sie an einem See? Was haben Sie über sich erfahren? Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen.
OFFEN . ANDERS . GUT – wie Sie persönliche Veränderungen erreichen
Theorie und Wissen alleine bewirken keine Verhaltensänderung. Also auch nicht das Lesen dieses Blog-Artikels. Wenn Sie etwas „verstehen“ oder „einsehen“, wird sich nicht viel in Ihrem Alltag verändern. Allerdings motivieren uns Wissen und Erkenntnisse, Veränderungen in Angriff zu nehmen! Wenn Sie sich von Ihrer persönlichen Situation „ein Bild machen wollen“ und die damit verknüpften (negativen) Gedanken und Gefühle bearbeiten möchten, dann sind Sie bei mir richtig.
In der Region Hannover gibt es viele freie Anbieter zu Coaching, Beratung und Psychotherapie. Was mich auszeichnet? Mit mir sprechen Sie nicht über Probleme, mit mir finden Sie Lösungen – auf Wegen, die Sie bisher noch nicht gegangen sind: OFFEN . ANDERS . GUT